10. Das Reich der GEMEINSCHAFT
Soziale Beziehungen der Menschen im Reich der RESSOURCEN, d. h. als körperliche Wesen, sind idealerweise Liebesbeziehungen, die aus dem Bewusstsein der gemeinsamen Herkunft und der Verbundenheit im SEIN entstehen. Geht dieses Bewusstsein der Verbundenheit durch Identifikation mit der zentrierten Person und dann mit dem Denksinn verloren, nimmt sich der Mensch als Individuum in einem bedrohten Körper wahr, abhängig vom Geben und Nehmen in sozialen Beziehungen. Angst entsteht, fordert Sicherheit und will durch Macht kontrolliert werden.
Dieser
Zustand der „Nacktheit“ im Reich der RESSOURCEN ist der
Wendepunkt bezüglich der Bestimmtheit.
Die Bestimmtheit, die
durch die Konkretisierungen der Widersprüche bis zum Reich der
RESSOURCEN und bis zum fragilen menschlichen Individuum
zugenommen hatte, nimmt in den sozialen Reichen durch die Trennung
von Energie
und Information wieder ab (siehe auch Kapitel 14). Die weiteren
Konkretisierungen der Widersprüche führen nun zur Vergrößerung
von Unbestimmtheit.
Es kommt in den sozialen Reichen
also darauf an, seine Freiheit zum Ausleben seiner individuellen
Bestimmung durch Vermehrung seiner Handlungsoptionen zu vergrößern,
ohne seine vom SEIN geerbte Universalität zu verlieren.
Die
politische Idee der Menschenwürde entsteht aus der Ahnung, dass das
Individuum
als Element sozialer Reiche nicht mit seiner Position und Rolle in
den Gemeinschaften und Gesellschaften gleichzusetzen ist.
Die
empfundene Fragilität und Nacktheit nach dem Verlust des
Bewusstseins des SEINs wird durch soziale Macht- und
Austauschbeziehungen kompensiert. Diese verfestigen sich informell
durch Gewohnheiten und formal durch Vereinbarungen zu Normen. Die
Grundwidersprüche des Zusammenlebens in Normen-Gemeinschaften sind
die Werte- oder Interessenkonflikte zwischen Individuen, die nicht
durch die Liebe, Toleranz oder Altruismus ausgeglichen werden.
Wertekonflikte leiten sich aus unterschiedlichen überpersönlichen
Positionen im Reich der EXISTENZ ab. Interessenkonflikte entstehen
aus unterschiedlichen Identitäten im Reich der PERSONALITÄT. Diese
Widersprüche werden durch moralische Normen geregelt, die eine
Gemeinschaft begründen und nach außen abgrenzen.
Die
moralischen Normen werden idealerweise durch die Mitglieder der
Gemeinschaft ausgehandelt, durch anerkannte Autoritäten verkörpert,
nach innen durchgesetzt sowie nach außen verteidigt. Gespeichert
werden diese Normen als Bilder von Kausalität im Denksinn eines
jeden Individuums.
Die Identifikation mit ihnen geschieht durch Integration in das
Selbstbild mittels Bildung und Erziehung. Ihre gemeinschaftsbildenden
Energien beziehen die Normen aus der moralischen Arbeit eines jeden
einzelnen, gegen seine als authentisch empfundenen Gefühle zu
handeln.
Normen können auf verschiedenen Stufen der Moralentwicklung definiert und von der Gemeinschaft gegen Individuen durchgesetzt werden. Auf unteren Stufen definiert Moral die Regeln des Interessenausgleichs, auf oberen Stufen geht es um Werte zur Gestaltung der Gemeinschaft. Im Reich der Normen sind diese Regeln bzw. Werte nicht institutionalisiert. D. h., sie werden direkt von Betroffenen, nicht von ihren Agenten gesetzt und ggf. verändert1.
Die Normen einer Gemeinschaft werden durch einen anerkannten Führer repräsentiert.
Die Triade des GEMEINSCHAFTs-Reiches lautet also: Individuum-Gruppe-Führer
Die grundlegende Dynamik der GEMEINSCHAFT spielt sich im Widerspruch zwischen Autonomie und Sicherheit ab. Autonomie beinhaltet die Möglichkeit der Umsetzung seiner Persönlichkeit in Form einer Bestimmung unter Einsatz der verfügbaren biologischen Energie aus dem Reich der RESSOURCEN. Verzicht eines Individuums auf Autonomie durch Normeinhaltung wird mit Sicherheit in der Gemeinschaft belohnt. Die Moral als aktive Kategorie dieses Reiches lässt sich nach dem Ansatz von Kohlberg skalieren. Den Maßstab dieser Skalierung kann man mit dem Kant’schen moralischen Imperativ beschreiben oder, um in den Bildern dieses Modells zu bleiben, mit dem verbliebenen Grad der Einheit mit dem SEIN und den damit verbundenen Qualitäten wie Vielfalt, Harmonie und Verbundenheit bzw. mit der Balance der Werte der EXISTENZ.
Die Tugend des Reiches der Normen ist der Kompromiss. Der Kompromiss der Gemeinschaft entspricht dem rechten Maß des RESSOURCEN-Reiches. Soweit Kompromisse die Widersprüche von Gemeinschaften ausgleichen, bedarf es keiner Institutionen, keines Rechtes.
Die Normensysteme der Gemeinschaften werden einerseits durch Sanktionierung, andererseits durch Wertesysteme der „Ehre“ gefestigt. Knüpfen die Systeme der Ehre jedoch Beziehungen zwischen Verfehlungen einer Person und der Ehre einer anderen Person, entsteht ein Komplex von moralischen Verflechtungen innerhalb von Gemeinschaften, der wie ein Panzer jegliche Entwicklung neuerer, angepasster Moralnormen verhindert und ein Ausbrechen von Individuen aus diesem System unmöglich macht. Die Individualisierung von Verfehlungen als „Sünde“ und der Fokus auf Änderung und Wiedergutmachung an Stelle von Bestrafung (ggf. unbeteiligter) sind ein hohes soziales Kapital der westlichen Gemeinschaften.
Obwohl Moralnormen in Gemeinschaften prinzipiell von Führer-Personen vertreten werden und auch geändert werden könnten, reproduzieren sie sich als erfolgreiche soziokulturelle Regeln, solange die Gemeinschaft erfolgreich ist.
Das Konzept der „Würde“ macht Menschen frei von den traditionellen Bindungen der Ehre, sucht eine universelle Moral in der Gemeinschaft umzusetzen und begründet durch seine Förderung von Individualität die Reformfähigkeit von Gemeinschaften.
Die Unbestimmtheit des GEMEINSCHAFT-Reiches besteht in Grad und Methode der Verwirklichung von Moral gegen die Werte und Interessen ihrer Individuen. Diese Unbestimmtheit konkretisiert sich in einem weiteren imaginären Reich, im Reich der GESELLSCHAFT2, mit Hilfe des Rechts. Das Recht löst die Verbindung zwischen Normen und den sie vertretenden Personen auf.
Eine GESELLSCHAFT ist unabhängig von ihrer moralischen Entwicklungsstufe umso lebendiger, solidarischer und stabiler, je mehr sie als Gemeinschaft auf Basis von Moralnormen funktioniert und umso weniger die Moral durch institutionell gesetztes Recht ersetzt werden musste. Voraussetzung dafür ist die Bedingung, dass die Normen in einem gemeinschaftlichen Konsens definiert und verlässlich durchgesetzt werden sowie kompatibel mit den Normen der Nachbarn sind, soweit die Beziehungen zu den Nachbarn dies erfordern.
Dieser
moralische Konsens der Gemeinschaft ist der Kern jeder Gesellschaft.
Er schafft die stärksten gesellschaftliche Ressourcen: Vertrauen und
Solidarität. Diese schaffen soziale Sicherheit, effiziente
Wirtschaftsstrukturen und Raum für Innovation. Nur wenn dieser
moralische Konsens zerfällt oder an seine Grenzen stößt, ist der
Rechtsstaat als Institution der GESELLSCHAFT gefordert. Er ist die
Leitplanke der sozialen Autobahn – nicht seine Fahrbahn!
Die
gegenwärtige Betonung der Bedeutung des Rechtsstaates rührt daher,
dass er für andere Institutionen, die nur juristische Personen sind,
ordnungsstiftend ist. Für natürliche Personen gilt das nicht. Mit
Menschen, die ihre Handlung ausschließlich an Rechtsnormen
orientieren, wäre keine Gesellschaft überlebensfähig.
Die
Notwendigkeit moralischer Werte als Grundlage einer Gemeinschaft
innerhalb der durch Recht erzeugten GESELLSCHAFT treibt die Debatte
um eine „Leitkultur“ immer wieder an, ohne dass die Politik diese
gesetzlich fassen kann. Wie die „soft skills“ der Angestellten
einer Firma ein wichtiges Kapital darstellen, wird die Qualität
einer Gemeinschaft durch die in ihr verwirklichten moralischen Normen
definiert. Auch das Vertrauen in Institutionen basiert auf dem
Vertrauen auf die Moral und die Loyalität der in ihr arbeitenden
Menschen gegenüber der Gemeinschaft.
In der kulturellen Vielfalt unterschiedlicher Normen und deren Wettbewerb sind die Prinzipien der Evolution aktiv.
Auf psychologischer Ebene findet der Mensch eine Gemeinschaft mit ihren Normen vor und steht vor der Entscheidung, diese Normen zu teilen und zu internalisieren oder zu versuchen, neue Normen auf Grund eigener Interessen oder Werte durchzusetzen. Normenkonflikte sind oft Konflikte zwischen Generationen und spielen bei Jugendbewegungen eine Rolle, bevor sich diese politisieren und konsequenterweise institutionalisieren.
Den Menschen in seiner Bestimmtheit und Eingebundenheit in das Reich der RESSOURCEN zeichnet aus, dass er im Verlauf der Entfaltung der Reiche eine maximale Universalität erreicht hat. Diese teilt der Mensch nur mit dem SEIN. Sie ist der Grund, warum Menschenwürde über der Würde des Tieres steht, obwohl das immanente SEIN beide beseelt. Moralische Normen haben diese Universalität der Menschen auch in der Gemeinschaft zu schützen. Das bedeutet in der Praxis die Aufrechterhaltung der rechten Balance der drei Elemente des Reiches der EXISTENZ „Werden“, „Vergehen“ und „Bleiben“
Fast jede Gemeinschaft nutzt Drogen, um die drei Elemente der EXISTENZ in der Gemeinschaft auszubalancieren. Durch ihre spezifischen Vergifungseffekte setzen Drogen meist eines der drei Elemente zu Gunsten der anderen beiden herab: Kokain (auch Koffein) setzt das Vergehen herab, Marihuana das Werden und Alkohol das Bleiben. Unspezifische Drogen wie Opiate oder bewusstseinserweiternde Drogen verändern unsere Identifikation mit den Strukturen des SEINS. Sie lassen sich nicht zur Ausbalancierung von Gemeinschaften einsetzen sondern erhöhen die Gefahr ihrer Destabilisierung.
Moralische
Normen regeln den Drogenkonsum und andere Suchtrisiken aus der
Perspektive der Gemeinschaft.
Für jeden Einzelnen unterliegt
die Kontrolle des individuellen Drogeneinsatzes den Regeln des Maßes
im Reich der RESSOURCEN, der Bestimmung im Reich der REGELN und dem
individuellen Interesse im Reich der PERSONALITÄT.
Da Gemeinschaften sich als Konkretisierung des Urbildes der Familie formen, tragen sie das Ideal der Familie in sich. Stabile harmonische Gemeinschaften werden Familienstrukturen ähneln. Die heute moderne demokratische Idee der Gleichheit aller Gemeinschaftsmitglieder scheint die Basis aller Gemeinschaften zu sein, doch die Sehnsucht nach einer Führer-Figur ist groß und wenn sie gefunden und akzeptiert ist, kehrt Frieden ein.
Wie die Familie ist eine Gemeinschaft eine Synthese der Werte des EXISTENZ: Der Verbundenheit und der Zentriertheit. Sind diese Werte ausbalanciert, entsteht Offenheit. Die Offenheit lässt eine Gemeinschaft mit anderen Gemeinschaften kooperieren, die Identität einer Gemeinschaft schließt diese aber nach außen ab und ist die Voraussetzung für innergemeinschaftliche Solidarität.
Ein Identitätsverlust einer Gemeinschaft führt zu Entgrenzung und in der Folge zum Zerfall von Gemeinschaft. Dies geschieht systematisch, wenn sich auf Grund fehlender äußerer Herausforderungen das Prinzip der Mutterschaft und der damit einhergehenden hohen Bewertung der Verbundenheit gegenüber dem Prinzip der Vaterschaft mit der Forderung nach Zentriertheit durchsetzt.
Setzt sich dagegen durch Wahrnehmung oder Inszenierung von Bedrohung das Prinzip der Vaterschaft gegenüber der Mutterschaft durch, entstehen totalitäre Gemeinschaften.
Metaphysische Aspekte |
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Psycho-Soziale Aspekte |
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Reich |
Triade |
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aktive
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aktive
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Instanzen |
passive
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passive
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RESSOURCEN |
Energie |
1 |
Handlung |
Entscheiden |
Wissen |
Erkennen |
Wahrnehmung |
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1 |
sozialer Zyklus |
Fluss |
2 |
Planen |
Botschaft |
Dekodieren |
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2 |
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Form |
3 |
Agieren |
Fakten |
Rezipieren |
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3 |
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GEMEINSCHAFT |
Individuum |
1 |
Autonomie |
Abweichung |
Gewohnheit |
Internalisierung |
Sicherheit |
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4 |
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Gruppe |
2 |
Rebellion |
Konflikt |
moralische Arbeit |
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5 |
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Führer |
3 |
Sanktion |
(Moral) – Norm |
Loyalität |
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6 |
1 Zu Details der Stufen von Moralentwicklung sei auf Lawrence Kohlberg verwiesen
2 Siehe Kap. 11